Die Knochen- und Geweihartefakte von Krautheim-Allstedter Mühlnerg, Kr. Weimarer Land (Thüringen) - Untersuchungen zur Knochen- und Geweihindustrie des Jungneolithikums im Mittelelbe-Saale-Gebietes

Zusammenfassung

Die bisher vorgenommenen Untersuchungen konnten zeigen, dass bereits mit geringem oder gar keinem Laboraufwand Aussagen zur Knochen- und Geweihindustrie möglich sind, die über die traditionellen Angaben in der Literatur hinausgehen. Neben der eigentlichen Beschreibung diverser Merkmale an den Geräten, lieferten die Untersuchungen auf indirektem Wege auch Aussagen zu bearbeiteten Materialien, die erhaltungsbedingt häufig im archäologischen Befund nicht mehr nachweisbar sind.

Bei der Klassifikation der Geräte wurden vornehmlich deskriptive Bezeichnungen verwendet, um die bei traditionellen, funktionalen Bezeichnungen auftretende Suggerierung einer Funktion zu vermeiden. Primäre Aufgabe war die Beschreibung der Zusammensetzung des Materials in zwei Stufen. Die erste Stufe stellt die Klassifikation der Artefakte nach verschiedenen Gesichtspunkten dar und soll als Ergebnis eine Typologie von Endprodukten liefern. Gegenstand der zweiten Stufe sollte eine mikroskopische Autopsie des Materials sein. Kombiniert mit anderen Informationen, wie Form und Größe des eventuellen Arbeitsbereiches des Artefakts, kann die Untersuchung der Gebrauchsspuren nützliche Hinweise zu den bearbeiteten Rohstoffe und zur Identifikation möglicher Artefaktfunktionen liefern.

An die Beschreibung der Materialzusammensetzung sollten sich Aussagen zum diachronen und synchronen Auftreten des Materials anschließen. Diese Aussagen zur räumlichen und zeitlichen Verteilung lassen verschiedenen Ergebnisse zu. Unter anderem könnten spezielle Arbeitsbereiche innerhalb oder außerhalb der Siedlung angesprochen werden, spezielle Produktionsplätze in Beziehung zu Wohn- oder anderen Plätzen gesetzt werden und weiterhin Veränderungen in der Zeit, die bestimmte Produktionsebenen und die Organisation der Produktion betreffen, erkannt werden. Es ergeben sich also Fragen von beachtlicher sozioökonomischer Bedeutung, deren Förderung sicher weitere Überlegungen zum Produktionscharakter auf intra- und interlokaler Ebene ermöglicht.
Die dritte Ebene der Analyse der Knochen- und Geweihgeräte sollte die Rekonstruktion der Herstellungstechniken behandeln.

Die Ordnung der Artefakte erfolgte über drei Ebenen, nämlich nach der Unterscheidung verschiedener Produktarten, der Klassifikation von Endprodukten und der Unterscheidung verschiedener Typen und Varianten von Endprodukten. Jedoch läuft eine Trennung anhand der unterschiedlichen Rohstoffe (Knochen, Zahn und Geweih) diesem Prozess voraus. Innerhalb der Produkte kann demnach zunächst zwischen Endprodukten und Halb- und/oder Abfallprodukten unterschieden werden. Eine deutliche Abgrenzung zwischen Halb- und Abfallprodukten ist dabei nicht immer möglich. Die Endprodukte lassen außerdem nach Meinung des Verfassers mindestens eine weitere Unterteilung in zwei Klassen zu, einerseits in Geräte und andererseits in Objekte speziellen Gebrauches. Innerhalb dieser beiden Klassen erfolgte die Typologisierung. Die Klassifikation der Endprodukte erfolgte auf Grundlage des Vorhandenseins von erkennbaren Merkmalen (z.B. Arbeitsbereichen), die den Gerätecharakter unterstreichen. Sind solche Merkmale nicht vorhanden, erfolgt eine Zuweisung zur Klasse der Objekte speziellen Gebrauches.
Geräte, die bisher allein aufgrund eines einzelnen Formmerkmals als Pfrieme oder Meißel bezeichnet wurden und damit eine bestimmte Verwendung implizierten, zeigen bei genauere Untersuchung ein weit größeres Anwendungsspektrum. Neben der Verwendung von Geräten mit spitzen Enden in der Leder- und Textilbearbeitung, konnte einigen Geräten ein waffenähnliche Charakter zugesprochen werden.
Für die Geräte mit querstehender Arbeitskante sind zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten denkbar. Entsprechend der Gebrauchsspuren können Verwendungen in der Holzbearbeitung, der Rindengewinnung und der Bearbeitung von Fellen und Häuten rekonstruiert werden.
Die Geräte mit stumpfer, querstehender Arbeitsfläche lassen aufgrund ihrer deutlichen Ausbrüche am Arbeitsende an eine Verwendung in der Silexbearbeitung denken. Möglich ist jedoch auch eine Verwendung in der Holzbearbeitung.

Neben den Erkenntnissen zu möglichen Funktionsbereichen, lieferten die Untersuchung auch Hinweise für eine zeitliche und räumliche Signifikanz einzelner Gerätegruppen. Die multifunktionale Geräteklasse V scheint demnach erstmals in einer mittleren oder jüngeren Phase der TRB-Kultur aufzutreten. Interessant wären hierfür weiterführende Untersuchungen, welche die technologischen Hintergründe für das plötzliche Auftreten dieses neuen Gerätetyps hinterfragen. Offensichtlich waren die Arbeitsgänge, für die diese Geräte benutzt wurden, in vorherigen Epochen nicht bekannt, nicht erforderlich oder wurden durch andere Geräteformen realisiert.
Eine ähnlich große chronologische Bedeutung scheinen die als Pfeilspitzen gedeuteten Knochenspitzen zu besitzen (AG I-4-d). Sie sind nach Kenntnis des Verfassers für den mitteleuropäischen Bereich auf die Bernburger Kultur und das hessische Megalithikum beschränkt. Jedoch konnte eine eventuelle Fortsetzung nach Westen anhand der Literatur nicht weiter untersucht werden. Eine ähnliche, zeitliche Begrenzung scheint die ebenfalls als Pfeilspitzen gedeutete robuste Variante der Artefaktgruppe AG I-2

Für das mitteldeutsche Neolithikum lässt sich nach den Untersuchungen feststellen, dass das Spektrum der jungneolithischen Knochen- und Geweihindustrie in ihren Ausmaßen die Spektren älterer und jüngerer neolithischer Perioden deutlich übersteigt. Die Vielfalt lässt sich im engeren mitteleuropäischen Raum lediglich mit den Funden aus diversen Feuchtbodensiedlungen Südwestdeutschlands und der Schweiz vergleichen.
Sowohl die Vielfalt im Allgemeinen als einzelne Typen im Speziellen werden vom Verfasser als für die Salzmünder und Bernburger Kultur als kulturspezifisch angesehen.

Als direkt an diese Untersuchungen anschließender Schritt wäre ein überregionaler Vergleich mit einem größeren zeitlichen Rahmen zu starten, um eventuell Veränderungen und Entwicklungen der Knochen- und Geweihindustrie deutlicher herauszuarbeiten. Dieser Arbeitsschritt hätte jedoch den Rahmen dieser Arbeit gesprengt.

Andreas Northe