"Leierspiel und Labetrank - Bilderwelt und Weltbild früheisenzeitlicher Kulturgemeinschaften in Oberitalien und Slowenien"
 
Vortrag  
  Dr. Christoph Huth (Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichte, Universität Regensburg):
  9. Juli 2001 (Montag), 19:00 Uhr c.t.
  Robertinum HS
 
Zusammen-
fassung:
Die Denkmäler der sogenannten Situlenkunst - in der Hauptsache Bronzeblecheimer - sind die ersten Zeugnisse zusammenhängender Bilderzählung in der europäischen Vorgeschichte und schon deshalb eine archäologische Quelle ersten Ranges. Die in Registern angeordneten Bildfolgen zeigen Wagenfahrten, Reiter, Aufzüge von Mensch und Tier, Opferhandlungen, Faustkämpfe, sexuelle Motive, thronende Männer bei Leierspiel und Labetrank und vieles andere mehr. Sie wurden in der Literatur bislang als Begräbnisfeierlichkeiten, als bäuerlich-derbes Festgepränge oder als Darstellungen des "überhöhten Herrenlebens" (sic) einer früheisenzeitlichen Stammesaristokratie gedeutet.
Eine eingehende Analyse der verwendeten Motive, der Bildkomposition und der Bildsprache zeigt jedoch, daß es sich nicht um zufällig zusammengewürfelte Bildfolgen, sondern um äußerst stringente Erzählungen handelt, die die kosmologischen Vorstellungen der Zeit wirkungsvoll in Szene setzen. Auch die Bildträger selbst - die Eimer - und ihre Verwendung als Grabbeigabe fügen sich konsequent in die dargestellten Zusammenhänge.
Bildliche Darstellungen haben einen besonderen Aussagewert, der weit über das hinausgeht, was mit traditioneller archäologischer Analyse und Begrifflichkeit faßbar ist. Bilddarstellung und Bildwahrnehmung sind keine unmittelbare Umsetzung optischer Eindrücke, sondern in erster Linie gedankliche Leistungen. Die Verwendung bestimmter Darstellungstechniken erlaubt daher Einblicke in die kognitiven Hintergründe der früheisenzeitlichen Bilderzählung, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Darstellungsweise, sondern auch auf die Logik, die den kosmologischen Vorstellungen und dem einschlägigen Verwendungskontext der Eimer als Beigabe in Prunkbestattungen zugrunde lag.
Die Bilderwelt der Situlenkunst gibt nicht nur Aufschluß über das Weltbild der früheisenzeitlichen Kulturgruppen zwischen der Padana und Slowenien, sie hilft außerdem, die ungleich primitiveren Bilddarstellungen der nördlich benachbarten Kulturgemeinschaften besser zu verstehen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Felsbilder der Valcamonica.


Christoph Huth
 
Literatur:
  • W. Lucke und O.-H. Frey, Die Situla von Providence (Rhode Island). Ein Beitrag zur Situlenkunst des Osthallstattkreises (Berlin: de Gruyter 1962)
  • Zum archäologischen, kognitionswissenschaftlichen und kultursoziologischen Umfeld:
  • G. Kossack, Religiöses Denken in dinglicher und bildlicher Überlieferung Alteuropas aus der Spätbronze- und frühen Eisenzeit (9.-6. Jahrhundert v. Chr. Geb.) (München: Bayerische Akademie der Wissenschaften 1999)
  • M. Torelli, Il rango, il mito e l'immagine. Alle origine della rappresentazione storica romana (Milano: Electa 1997)
  • E. Brunner-Traut, s.v. Aspektive, in: W. Helck und E. Otto (Hrsg.), Lexikon der Ägyptologie, Bd. 1 (Wiesbaden: Harrassowitz 1975) 473-487
  • J. Willats, Art and Representation. New Principles in the Analysis of Pictures (Princeton: Princeton University Press 1997)
  • G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp ³1990; 1982)
  • C.R. Hallpike, Die Grundlagen primitiven Denkens (Stuttgart: Klett-Cotta 1984)